KLAGELIEDER
Jeremia drückt seinen tiefen Schmerz über die bittere Zerstörung Judas, Jerusalems und des Tempels und auch über sein trostloses und scheinbar fruchtloses Leben aus. Er findet aber trotz allem zu einem Trost und erneuten Vertrauen auf Gott durch.
In den Klageliedern kommt der tiefe Schmerz Jeremias über die totale Zerstörung von Juda, Jerusalem und dem Tempel durch die Babylonier in 586 BC zum Ausdruck. Jeremia beklagt die Wirklichkeit und Unveränderbarkeit eines verheerenden, historischen Geschehens, das tragisch ist, da es eigentlich einfach hätte abgewendet werden können.
Seit Mose hat Gott den Israeliten immer wieder unterstrichen, dass der Besitz ihres Landes von ihrer Treue zu Gott und dem Gehorsam gegenüber dem Gesetz abhängig sei. Im dritten Buch Mose erklärt Gott, dass der einzige Grund, warum die sieben Nationen ihr Recht auf Kanaan verloren haben, ihr tief verwurzelter Götzendienst, ihre soziale Ungerechtigkeit und Gewalttätigkeit war. Gott warnt dort Israel, dass es ihnen gleich gehen werde, wenn sie sich auch so verhalten (3.Mose 18,24-31). Kurz vor seinem Tod erinnert Mose die zweite Generation Israels nochmals daran, dass eine anhaltende Ablehnung Gottes und seines Gesetzes zum Verlust von Gottes Segen und schlussendlich des verheissenen Landes führen wird (5.Mose 28,15-68).
Juda hat sich als Nation anfänglich gut verhalten, ist aber über die Jahrhunderte mehr und mehr verkommen. Gott hat immer wieder Propheten geschickt, um sie zu warnen, aber die Umkehr des Volkes zu Gott war nur zeitweilig. Gottes letzter Aufruf kommt durch den Propheten Jeremia, der Juda ganze einundvierzig Jahre lang (627-586 BC) eindringlich zu Busse zu bewegen versucht. Juda verweigert sich und Jeremia hat die tragische Ehre, die Erfüllung aller seiner Unheils-prophezeiungen mit seinen eigenen Augen zu sehen – was eigentlich durch eine ganzherzige Busse leicht abwendbar gewesen wäre. Er erlebt wie seine Nation, seine Stadt und sein Tempel total zerstört wird und sein Volk durch Krieg, Belagerung und Seuchen dezimiert wird. Die Überlebenden werden ins Exil im gottlosen Babylon geführt. Es bleibt die Tatsache zu beklagen, dass sein leidenschaftlicher, jahrzehntelange Einsatz und sein aufopfernder Gehorsam, der Ablehnung, Spott, Todesdrohungen, Gefängnisaufenthalten und Folter zur Folge hatte, scheinbar keine Veränderung erwirken konnte. Er fühlt sich am Boden zerstört, einsam, geschlagen und ohne Frucht und ist bitter über die Jahre von scheinbar nutzloser Selbstaufopferung.
In den Klageliedern sehen wir ein ungefiltertes Ausgiessen von Jeremias Gefühlen, seine Auseinandersetzung mit dem Geschehenen, seinen Schmerz über die zerstörte Stadt und das Volk. Er bringt seinen inneren Aufruhr, seine tiefe Depression und seine Entrüstung, ja sogar Groll Gott gegenüber zum Ausdruck, speziell in Klg 3,1-21.
Klagelieder präsentiert sich als schönes und hoch gegliedertes Gedicht, in dem der erste Buchstabe jeden Verses dem hebräischen Alphabet folgt. Vier der fünf Kapitel sind so gegliedert. Aber nicht nur das, auch sind die Kapitel symmetrisch angeordnet, das heisst Kapitel 1 entspricht Kapitel 5, Kapitel 2 entspricht Kapitel 4 und die Mitte des dritten Kapitels (Klg 3,22-33) sind das Herz der ganzen Struktur. Wie kann eine bittere, emotionale Klage so wunderschön ausformuliert worden sein? Versucht Jeremia Ordnung ins sein Chaos zu bringen? Versucht er Schönheit in der Zerstörung um ihn herum zu finden? Gibt ihm eine strenge Ordnung vielleicht Halt in Zeiten wo alles ausser Kontrolle scheint? Wir wissen es nicht.
Viele Sachen, die in diesem Buch angesprochen werden, sind jedoch ganz klar: Jeremia ist schonungslos ehrlich, wenn er beschreibt, was passiert ist, er beschönigt nicht oder erklärt ncihts weg. Er zwingt sich, der Wirklichkeit voll ins Auge zu sehen, er konfrontiert sich, mit was das bedeutet, wie schmerzhaft das auch sei. Er akzeptiert die Realität, bleibt bei der Wahrheit und will keinen falschen Trost.
Nichts in Jeremias Worten lässt auch nur eine Sekunde den Gedanken zu, dass das Geschehene vielleicht ein Zufall war. Nichts war Willkürlichkeit, nichts war «ausser Kontrolle»; Jeremia wusste sehr wohl, was geschehen würde und warum es geschah. Er hat keine Sekunde Zweifel, dass es Gott ist, der dieses Unheil über Juda gebracht hat, – gemäss seinem Wort. Nicht die Stärke Babylons noch die Ohnmacht Gottes ist der Grund dafür, dass Gottes Nation von der Karte gewischt wurde, es ist die hartnäckige, menschliche Sünde, die dazu geführt hat. Gott ist immer auf dem Thron, was einerseits der Grund für die Verwüstung aber andererseits auch ein Grund für Hoffnung ist, denn Gott ist ein gnädiger Gott.
Trotz aller Bitterkeit und inneren Konfliktes, die Jeremia in den Klageliedern ausdrückt, findet er durch alles durch zu einer neuen Hoffnung. Es ist Gottes Festhalten an seinem Standard, das die Katastrophe gebracht hat und es ist Gottes Gnade und Treue, die eine Wiederherstellung bringen wird, auch wenn Jeremia diese nicht mehr mit eigenen Augen sehen wird: «Die Güte der Herrn hat kein Ende, sein Erbarmen hört niemals auf … Denn der Herr ist gut zu dem, der ihm vertraut und ihn von ganzem Herzen sucht» (Klg 3,22+25). Jeremia lebt vor, wie sich durch das Annehmen von Gott, von seinem Urteil und seiner Gerechtigkeit – Trost, Friede und Hoffnung finden lässt (Klg 3,25-33).